| Neer, Richard: The emergence of the classical style in Greek sculpture. xiv, 262 p., ISBN 9780226570631, $65.00. (University of Chicago Press, Chicago 2010)
| Rezension von Dietrich Willers, Universität Bern Anzahl Wörter : 1066 Wörter Online publiziert am 2012-03-26 Zitat: Histara les comptes rendus (ISSN 2100-0700). Link: http://histara.sorbonne.fr/cr.php?cr=1358
Das bedeutende Buch entlässt den Leser schlussendlich etwas ratlos.
Es bietet eine Fülle von Einsichten zur klassischen Skulptur mit sorgfältigen
Beschreibungen und detaillierten Analysen von Einzelwerken, die man mit ebenso
viel Freude an der sprachlichen Eleganz wie Gewinn für ihr Verständnis liest,
und es lenkt den Fokus auf Argumente, die in der aktuellen Forschung aus dem
Blick geraten waren. Doch die Fragestellung, die der Titel des Buches
verheisst, das Problem der Entstehung (des «Auftauchens») des klassischen Stils
in der griechischen Skulptur, sein Zusammenhang mit der archaischen Plastik ist
nur gelegentlich ausdrücklich thematisiert und muss für grössere Strecken des
Buches im besten Fall implizit mitgedacht werden. Die Abhandlung ist auf die
Skulptur grossen Formats konzentriert, «Kleinkunst» bleibt bewusst
ausgeklammert.
Es geht Neer um eine Neubewertung des «Hochklassischen» Stils, im
Grunde um eine neue Sprache für die Erfassung dieses Stils. Die im Begriff des
Klassischen inhärenten Vorstellungen von Klassizität, Norm, Vorbild- und
Musterhaftigkeit, die Frage, warum die hochklassische Kunst bereits zur Zeit
ihrer Entstehung und in den unmittelbar nachfolgenden Jahrhunderten als etwas
Ausserordentliches empfunden wurde, lässt Neer beiseite (das ist das Thema z.
B. der grossen Ausstellung von 2002 gewesen: W.-D. Heilmeyer [Hg.], Die griechische Klassik: Idee oder
Wirklichkeit, Mainz 2002). Der politische, gesellschaftliche und kulturelle
Wandel der griechischen Poleis vom späten 6. Jahrhundert bis zur Mitte des 5.
Jahrhunderts steht ebenfalls ganz am Rande. Die Verknüpfung dieser Phänomene
mit der Entwicklung der bildenden Kunst in diesem Zeitraum war das Thema des
Freiburger Symposiums von 1999 (D. Papenfuss – V. M. Strocka [Hgg.], Gab es das griechische Wunder? Griechenland
zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr., Mainz
2001). Die Argumentation konzentriert sich auf das Verhältnis von Kunst-Werk
und Betrachter (beholder), wobei freilich gerade nicht die Rezeption des
modernen Betrachters gemeint ist, sondern eben der antike Zeitgenosse. Die
Begegnung von Kunstwerk und Betrachter gewinnt einen geradezu intimen
Charakter, und diese Konzentration erlaubt es dem Verf., auf andere Aspekte zu
verzichten. In die Reaktion des Betrachters mit einbezogen werden einzig die
vorklassischen und klassischen griechischen Texte (mit stupender
Quellenkenntnis), und sie werden höchst anregend im Hinblick auf die antiken
Erwartungen an das Bildwerk und die Antworten auf die Begegnung befragt.
Die Einführung (S. 1–19) beginnt mit Bemerkungen zur Bedeutung des
Stilbegriffs, mit der Ablehnung eines grundsätzlichen Unterschieds von «empirischer Forschung» und ästhetischem
Urteil sowie eines Unterschieds von kunsthistorischer und archäologischer
Methode, womit Neer offene Türen einrennt, was er sicherlich weiss. Es begegnet
nicht selten, dass Wohlbekanntes wiederholt wird, doch das gehört zum Habitus
des Textes, der mit einer Art von literarischer Gelassenheit ein eigenes Ganzes
erstellen will. Die Vorbemerkungen diskutieren sodann die Rolle des
«Betrachters» und der «Seherfahrung» in der neueren Forschung. Die Einleitung
schliesst mit dem ausführlichen Rückgriff auf die einflussreiche
anthropologische Sicht Jean-Pierre Vernants, zwar kritisch verstanden, aber
doch nicht zum Vorteil des Vorhabens. Vernants Vorgehen blieb immer den
literarischen mehr als den bildlichen Quellen verhaftet. Sein Grundentwurf,
dass die griechische figürliche Darstellung als sema, gleichsam als Ersatz für den abwesenden Bezug zu verstehen
sei, ist kaum aus der konkreten Bildinterpretation entwickelt.
Kapitel 1 (S. 20–69) setzt mit
einer meisterlichen Beschreibung jener spätarchaischen Skulpturen ein, die in
Südostattika nicht weit voneinander entfernt
in der Nähe von Anavyssos gefunden sind, und entwickelt an ihnen die
notwendige Reaktion des Betrachters: thauma
– Staunen, womit ein Grundbegriff des Buches gefallen ist. Der Weg dorthin wird
durchmessen mit Betrachtung der bildhauerischen Prinzipien («Carving»), der
Typologie («Sameness»), von Dynamik, Aktion, Handlung («Joining») und
Körperlichkeit («Embodiment»). Da wird vieles neu gesehen, doch nicht jeder
Leser /jede Leserin wird allen Urteilen beistimmen. Das erotische Element z.B.
am Stand des Kritiosknaben (S. 51f.) sieht dieser Rez. nicht. Das Profil in der
Seitenansicht mit der tiefen Einziehung im Kreuz ist der Mehrzahl der stehenden
männlichen Statuen bis hin zum Doryphoros gemeinsam. Dass zwischen archaischer
und frühklassisch-hochklassischer Darstellungsweise und Bildgestaltung kein
Bruch besteht, sondern das Jüngere sich kontinuierlich aus dem Älteren
entwickelte, hier und durchgehend durch das ganze Buch betont, gehört zu den
längst gültigen Erkenntnissen. Neer weiss auch das selbstverständlich, aber die
Emphase, mit der er auch Altbekanntes erneut formuliert, weckt Widerspruch.
Ähnlich ergeht es dem Leser mit
Kapitel 2 (S. 70–103): es mischen sich erfreute Zustimmung und Befremden.
Themen sind Köperhaltung (u. a. Kontrapost und bewegte Aktion),
Oberflächenwirkung von leuchtendem Marmor und glänzender Bronze, Aktion im
Giebelrelief und die Wirkung chryselephantiner Werke – die unterschiedlichen
Gründe für das thauma des Betrachters.
Dass alles dies nichts mit einer Entwicklung hin zu «Realismus», «Naturalismus»
zu tun hat – die alte, längst überwundene Position der Generationen des
archäologischen Positivismus bis hin zu Gisela M. A. Richter –, muss noch
einmal forciert betont werden. Die sicher richtig vermerkte Kontinuität
zwischen Archaik und Klassik bei der Erfindung des Kontrapost (S. 72f.) darf
doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die kontrapostische Figur ganz neu
und anders zum Raum, zum Boden, zur Welt verhält (nicht benutzt ist – trotz der
bewundernswerten Belesenheit Neers – die wichtige Studie von E. Walter-Karydi,
Kontrapost und Gruppenbildung, in: Gab es
das griechische Wunder?, Mainz 2001, S. 65–76).
In Kapitel 3 (S. 104–141)
wechselt die Betrachtung hin zum Verhältnis von dargestellter Kleidung und
darunter liegendem Körper, was vor allem die weibliche Figur in den Blick
nimmt, auch hier ausgehend von archaischen Werken, während in Kapitel 4 (S. 142-181)
an der männlichen Figur die Beziehung von Körperoberfläche («Haut») zu
Muskulatur und Körperstruktur thematisiert wird. Die Entdeckung des Ethos der
Figur ist das eigentliche Ziel der Untersuchung.
Kapitel 5 (S. 182–214)
schliesslich spricht die Wiedergabe des Bildraumes im klassischen attischen
Grabrelief an: «Die „Eroberung des Raumes“ [im klassischen Grabrelief] mag
verstanden werden als der im wesentlichen konservative Versuch, Statuarisches mit anderen Mitteln fortzusetzen (6)». Das beruht auf der
Grundannahme, dass der attributlos stehende archaische Kuros und die mit
Attributen mehr oder weniger reich versehenen Figuren des archaischen
Grabreliefs unterschiedliche Orientierungen haben, der Kuros eine überlokale,
«panhellenische», das archaische Grabrelief eine lokale, auf die
Polisgesellschaft hin orientierte (S. 186f.). Doch angesichts dessen, dass
beide Gattungen, ob in den städtischen Bestattungsarealen oder im ländlichen
ausserstädtischen Bereich, den Betrachtern aller sozialer Schichten in gleicher
Weise zur Verfügung standen, scheint mir diese Unterscheidung verfehlt.
Die eben genannte Hypothese ist
einer der wenigen Fälle, in denen Neer den Gedankengang hin zu
sozial-anthropologischen Bereichen erweitert. Das eigentliche Wagnis und Risiko
des Buches ist es, die Auseinandersetzung von Kunstwerk und Betrachter
gleichsam isoliert und konzentriert auf das Gegenüber geschehen zu lassen. Dem
verdanken sich inspirierte, hellsichtige Analysen einzelner Werke. Bewusst
ausgeklammert wird, dass der Bildhauer und der «Betrachter» immer auch Glieder
einer Gesellschaft waren, deren soziale und historische Erfahrung an der
Erschaffung der Skulptur und der Sehweise auf sie mitwirkten. Der Widerspruch
ist produktiv, solange er dem Leser erlaubt, neue Erfahrungen mit wohlbekannten
Werken zu machen. Aber aufs Ganze gesehen entgehen die besprochenen
Meisterwerke der Gefahr einer ästhetischen Dekontextualisierung doch nicht. Die
durch Vernant angeregte, vielfach vorgetragene Aufforderung, im Kunstwerk
sowohl den einzelnen erschaffenen materiellen Gegenstand als auch das
immaterielle «abwesende» Objekt zu sehen, gemahnt geradezu an platonisches
Gedankengut, ist insgesamt aber weniger fruchtbar.
|